Interview 2015 AoA

Helge Steinmann BOMBER 2016 © photo: Dierk Treber

Helge Steinmann BOMBER 2016 © photo: Dierk Treber

Interview

Helge Steinmann

Alles was man kaufen kann, ist eine Erlaubnis

Das Interview führte Dirk Dobiéy (Age of Artists, AoA).

Dieser Text ist lizensiert unter Creative Commons BY-NC-SA 4.0 (creativecommons.org).

Einleitung

Helge Steinmann ist in der Szene besser bekannt als „Bomber One“ und gilt in Deutschland als Graffiti-Urgestein. Der gebürtige Hesse studierte Kommunikationsdesign und ist bereits seit Ende der 80er als Graffiti-Künstler aktiv und machte sich auch international einen Namen. Er ist Organisator, Mitgestalter und Gast auf zahlreichen Veranstaltungen und Aktionen. Seine Bilder wurden in mehreren Magazinen und weiteren Publikationen veröffentlicht.

Interview

AoA: Ein Graffiti, das ein umarmendes Pärchen zeigt, das gleichzeitig auf ihre Smartphones schaut, oder eine Animation zu Syrien, in der Kinder mit Ballons davonschweben. Wie stehst du zu solchen aktuellen Bildern?

Helge Steinmann: In zehn Jahren sind diese Bilder sicher auch wieder verschwunden. Es wird medial soweit aufbereitet, dass die Ästhetik kopiert werden kann. Es besitzt nicht die Kraft des klassischen Graffitis. Wir verstehen unter Graffiti das amerikanische Stylewriting, das sich hauptsächlich mit Buchstaben beschäftigt. Es ging primär um die Stilistik und die Buchstaben, die gegeneinander kämpfen. Das Figurative war dafür meist nur Beiwerk. Der Inhalt war nebensächlich, vielmehr ging es um die Tat. Den Sprung zu wagen, nachts rauszugehen und dieser Welt etwas hinzuzufügen. Graffiti war damals ein Protestakt und besitzt heute keine Message mehr. Graffiti und der öffentliche Raum haben sich zu Medienflächen entwickelt.

AoA: Was neuerdings deutlich hervorsticht, ist die Reisewilligkeit. Ein Teil der Bewegung war das Auftreten an multiplen Orten. Im Zuge der Globalisierung wurde quasi jede Metropole bearbeitet.

Helge Steinmann: Das ist auch das Ideal eines jeden Sprayers. Es wird eine weltweite Präsenz erzeugt, ohne das Phänomen seiner Person preiszugeben. Im Social Media- Bereich sehen wir eine andere Richtung. Dort sehen wir den verstärkten Trend zur Selbstinszenierung. Manchmal auch mit einem Pseudonym , also einem Avatar, der nicht einmal authentisch sein muss. Man könnte Facebook als digitales Graffiti bezeichnen.

AoA: Woher kommen deine Begeisterung und die Beschäftigung mit der Kunst?

Helge Steinmann: Es beging mit klassischen Medieneindrücken, die noch in den 80ern hauptsächlich aus Fernsehen, Musikvideos und Kinofilmen bestanden. Ich fand es toll, was ich sah und wollte es lernen. Ein gutes Beispiel sind Breakdance-Videos, die weltweit von allen gesehen wurden und jeder so tanzen wollte. Zu dieser war der öffentliche Informationsfluss für Innovationen noch nicht gegeben. Dafür gab es keine Schulen, sodass man es selbstständig lernen und ausprobieren musste. Wenn ich zurückblicke, schätze ich mich glücklich. Die Herangehensweise ist heute eine völlig andere, da genug Medien den Austausch fördern. Früher war das Ausprobieren viel aufregender als das Endergebnis.

Natürlich dauerte es eine gewisse Zeit, bis ich da angekommen bin, dass meine Kunst sich amortisiert und ich davon leben kann. Es war ein langer und steiniger Weg.

AoA: Wie lange dauerte der Weg von deinen Anfängen bis zu dem Punkt, dass du davon leben kannst?

Helge Steinmann: Etwa ab dem Jahr 2008 konnte ich gut davon leben. Bis dahin war ich an der Gründung von losen Firmen beteiligt. Darunter auch die weltweit erste Agentur, die Graffiti an die Industrie vermittelt und eine professionelle Werbeagentur. Meistens waren diese Art von Sprühaufträgen finanziell nicht sehr lohnenswert und darüber hinaus sehr zeitintensiv.

AoA: Es klingt nach fast 20 Jahren Kampf. Wie hast du solange durchgehalten immer von Auftrag zu Auftrag zu arbeiten?

Helge Steinmann: Es ist zum einen das Medium, dass mich begeistert, indem ich im großen Format male und zum anderen bin ich einfach sehr beharrlich. Ich glaube daran, dass man manche Entscheidungen lange genug durchhalten muss, damit es irgendwann zu einem Erfolg führt. Es ist auch eine Frage des Zeitraums und der medialen Präsenz, ob Projekte funktionieren.

AoA: Auf deiner Website habe ich verschiedene Definitionen gefunden. Wo ziehst du die Grenzen? Wann ist es zum Beispiel Fine Art, wann etwas anderes?

Helge Steinmann: Ich definiere Fine Art als freie Arbeit, die nicht gesteuert wird und daher hohe Wertigkeit besitzt. Es ist etwas anderes, wenn ich als Umsetzer für andere Ideen fungiere. Auftragsarbeiten bleiben Auftragsarbeiten. Wenn hingegen die Konzeption bei mir selber liegt, dann nenne ich es feine Kunst.

AoA: Welche weiteren Faktoren tragen aus deiner Sicht zur Wertigkeit bei?

Helge Steinmann: Ich bewerte den Aufwand und die Zeit, die ich für das Projekt benötigt habe und den Grad an Leidenschaft, der in dieser Arbeit steckt. Wichtig ist auch das Feedback, ob jemand das Bild überhaupt haben möchte und so ein Bedarf besteht. Bei der Thematik besteht für gewöhnlich kein Bedarf, weil die Werke ein reines Luxusgeschäft sind und ich wenig Kontakte in die Geldelite habe.

Zu den bedeutendsten Kriterien zählen für mich die Freiheit in der Konzeption und meine Haltung zum Werk. Wenn es mir Leid tut das Bild aus der Hand zu geben, dann hat es für mich eine hohe Wertigkeit.

AoA: Die Wertigkeit ist unabhängig vom kommerziellen Teil, also der Kundensicht?

Helge Steinmann: Ich betrachte die Werke losgelöst von der Kundensicht, weil es Unikate sind. Es sind quasi Blueprints, die es nur einmal gibt. Sie sind aus dem Moment geboren. Im Unterschied dazu sind Prints kopierbar und problemlos in einer Auflage von 100.000 Exemplaren zu drucken.

AoA: Ist es kein Widerspruch, dass du mit deiner Ambition nachts rausgehst, aber doch unsichtbar bleibst?

Helge Steinmann: Auch wenn man nach außen unsichtbar wirkt, gibt das Medium einem ein Mitspracherecht. Ursprünglich wollte ich nur lernen, wie ich selbst Graffitis sprühe, die ich bei anderen sah und gut fand. Die Ergebnisse meiner anfänglichen Versuche sahen schlimm aus. Die sehen anfangs immer schlimm aus, weil die Sprühdose ein schwieriges Werkzeug ist.

Zu dem Zeitpunkt war es eine Sturm- und Drang-Zeit für mich, in der man sich selbst definieren und den Raum erforschen wollte. Es war für mich Abenteuer und Selbstfindung zugleich. Irgendwann danach betrachtet man seine Werke selbstreflektierend und erkennt, dass gerade auch etwas auf der Straße Wertigkeit haben kann, daß nicht offiziell und genehmigt, sondern hinterfragend und durchaus subversiv angebracht wurde. Graffiti steht eben nicht nur für Protest und reinen Vandalismus, sondern besitzt auch einen gestalterischen Aspekt, respektive einen gestalterischen Wert.

Ich habe mir mit Auftragsgraffiti und freien Arbeiten mein Kommunikationsdesignstudium teilfinanziert und merkte, dass an der FH/Universität mit zweierlei Maß gemessen wird. Betrachtet man unsere Werke aus der Sicht der klassischen Typografie, dann kommt man schnell zu dem Entschluss, dass unser Umgang mit den Buchstaben eine Unverschämtheit für jeden Typografen darstellt. Gottseidank sind heutige Typografen wesentlich offener und kommen teilweise auch dem Segment des Stylewriting/Graffiti, wie z.B. Underware. In Zürich lernten wir als Altmeister-Collektiv David Carson kennen, der durchaus auch eine andere Meinung als die konservative Richtung der Schriftgestaltung vertritt. In der klassischen Typografie geht es um Schriftgestaltung, Informationstransport und beim Graffiti eben weniger. Wir nennen es auch nicht Graffiti, sondern Stylewriting, weil es um die pure Stilistik geht, indem man mit Buchstaben spielt, sie weiterentwickelt, verbiegt, bricht. Es geht um die Befreiung des Alphabets. Schrift ist Alphabet in der Zwangsjacke.

AoA: Wieso ist das Spiel mit Buchstaben Protest?

Helge Steinmann: Weil es im so genannten öffentlichen Raum stattfindet und eine teilweise ironisierte Analogie zur klassischen Werbung darstellt. Wenn wir draußen mit einer kodierten Kommunikation auf Werbung antworten, ist es Sachbeschädigung. Eine klassische Kampagne hingegen darf den Raum besetzen.

In der schönen neuen Social-Network-Welt, etwa bei Facebook sind Menschen schon einen Schritt weiter, weil die Kommentar-Funktion in der digitalen Ebene einen Freiraum öffnet. Meiner Meinung nach ist Kunst ständig auf der Suche nach Freiraum, oder sogar Freiheit. Die Suche der Kunst nach Freiheit führt dazu, dass Normen gebrochen werden und Recht auch mal hinterfragt wird. Für Graffiti gilt das Gleiche. Wir haben einen öffentlichen Raum, der nicht öffentlich ist. Wenn ich etwas initiieren will, dann muss ich mich durch diverse Rechtsabteilungen oder bürokratische Hierarchien quälen. Das ist für mich kein Freiraum.

Graffitis sind meistens keine aggressiven Aussagen, sondern bunte Bilder. Angespornt durch staatliche und behördliche Regression setzen sich vermehrt aber auch zerstörerische Elemente durch. Freie Flächen werden benötigt, um diese Kunst- und Ausdrucksform frei zu fördern, ähnlich wie Speakers Corners in England. Mancherorts ist Graffiti auch zu einem kulturellen Bestandteil geworden und entwickelte sich zu einer Thematik, die nicht einfach wegdiskutiert werden kann, so in Mittel- und Südamerika als Murales. Im deutschsprachigen Raum sehe ich eine zunehmende Vereinnahmung durch behördliche organisierte pädagogische Strukturen.

AoA: Graffiti, Rap und Breakdance wurden als Einheit verbunden und so wahrgenommen. Wie siehst du das heute?

Helge Steinmann: Ich nahm die Verbindung aus den damaligen Medien genauso als Einheit wahr. Rückwirkend betrachtet, sehe ich es nicht mehr als eine Einheit. Vielleicht war es damals eine Art Marketingstrategie die drei Bereiche weltweit als eine Szene zu vermarkten. Letztendlich haben viele Sprüher mit Rap-Musik nichts zu tun und drehen sich auch nicht auf dem Kopf. Graffitiwriter sind eine heterogene lose Gruppierung, die kaum gleiche Eigenheiten besitzen. Sie können genauso gut Heavy-Metal hören oder Punks sein.

Ich ging ursprünglich davon aus, dass es eine konspirative Community ist und dachte, wenn man sprüht, ist man Teil einer großen Bewegung weltweit. Dem ist aber nur teilweise so. Für den Graffiti-Bereich gibt es lose Strukturen eines weltweiten Netzwerks, die sich aber in der PreInternet-Aera gebildet haben und bis heute aktiv sind. Die gesamte Hip-Hop-Kultur besitzt keine Netzwerkstruktur, weil sie sich ständig entwickelt und weiter bewegt, denn diese Kultur braucht auch keine Strukturen, denn nur so kann sich jeder der Thematik nähern und gleich mitmachen und ist Teil des Ganzen. Das ist ja gerade die Grundidee dahinter.

AoA: In der Wirtschaft sind Netzwerke und Hierarchien wichtige Aspekte. Welche Kriterien muss ein Netzwerk erfüllen, damit es funktioniert?

Helge Steinmann: Wir haben ein Netzwerk, das sich nicht durch die monetäre Dimension definiert, sondern allein durch das Artwork und durchdie Innovation. Es ist ein reines Empfehlungsmarketing. Man arbeitet mit Personen zusammen, die man empfohlen bekommen hat und empfiehlt seinerseits gute Sprühkünstler, dies weltweit.

Zum Außenseiter macht mich aber die Tatsache, dass ich auch immer schon mit unerfahrenen Personen sprühe. Ich breche damit den Grundsatz: „Nicht mit Anfängern sprühen!“ Ich halte mich nicht an diese Regel und die pseudohierarchischen Strukturen, die ihr zugrunde liegen. Früher wurde man dafür deutlich stärker geächtet, aber das Meinungsbild herrscht immer noch. Ich bin selber auch Schüler von drei guten Graffitiartists aus München. Mein Wissen gebe ich gerne weiter, weil ich es für kein Geheimnis halte und mich nach wie vor an meine Wurzeln erinnere, wie ich begann. In Zeiten des Internets liegen viele Wissensbereiche offen und können von vielen erlernt werden. Aber das sind immer nur Halbwahrheiten. Entscheidend ist der eigene Schritt es zu tun.

AoA: Wie kamst du zu deinen drei Lehrern, oder auch Coachs?

Helge Steinmann: Damals suchte man die Orte auf, wo viel gesprüht wurde. Ich lernte jemanden kennen, der mich ein paar Male mitnahm und mir Tricks und Tipps gab. Um 1988 war die Szene noch überschaubar klein und man kannte sich gegenseitig, weil ich an die Leute aus der Gegend vermittelt wurde. Ich fuhr häufiger nach München und mich verbindet heute noch viel mit der Stadt und den Leuten. Man wird weiterempfohlen nach Paris, oder in die Schweiz, z.B. nach Luzern.

AoA: Gehst du heutzutage noch raus?

Helge Steinmann: Nachts oder wild gehe ich nicht mehr raus. Ich betrachte gerne im Nachhinein meine wild entstandenen Arbeiten. Wenn sie meiner Meinung nach noch Qualität haben, freue ich mich. Mich ärgern billige Bombings, wenn sie von der Ästhetik her nicht meinem Empfinden entsprechen, aber selbst ich treffe auf Trends und Moden, denen ich nachgeben muss, denn auch das ist eine Generationsfrage. Jede Generation hat da ihren eigenen Kontext an Gestaltungstrends.

Die Wahl der Orte ist auch eine Frage der Reife. Mittlerweile sehe ich Graffiti an älteren Gebäuden kritisch. Es nervt die Bewohner, besonders wenn zuvor eine Renovierung durchgeführt wurde. Betonbrücken haben wir genügend. Sie bieten eine gute Möglichkeit das Verhältnis zu entkrampfen und man könnte hier großzügig Freigaben aussprechen. Dafür müsste aber ein Umdenken, seitens der Bürokratie stattfinden. In Frankfurt haben wir z.B. Sozialarbeiter- und Sozialpädagogen, die zwischen wilden Sprühern und der Stadt vermitteln sollen. Mit dem Ergebnis, daß sie Flächen im privaten und öffentlichen Raum meist kostenfrei als Präventivarbeit besetzen.

Für die Verwaltung ein einfaches Mittel ein Lösungsansatz das wilde Sprühen zu kanalisieren. Viele dieser Wilden werden domestiziert und zu wertigen Werbegrafikern, ähnlich meinem eigenen Lebensweg.

AoA: Wenn du mit der Spraydose in der Hand vor der Brücke standst, bist du einem Plan gefolgt oder entstanden die Kunstwerke spontan?

Helge Steinmann: Zu Beginn fertigte ich vorher Skizzen an. Das tue ich seit Ende der 90er nicht mehr und arbeite fast ausschließlich nur spontan.  Der Vorteil der Spraydosen liegt im Übermalen. Man kann problemlos mit der hellsten Farbe über die dunkelste sprühen und umgekehrt. Skizzen auf dem Papier waren für mich oftmals doppelte Arbeit.

AoA: Wo entnimmst du deine Ideen? Könntest du den Arbeitsprozess von Beginn bis zu vermeintlichem Ende schildern?

Helge Steinmann: In erster Linie bin ich Sprayer (wir selbst nennen uns Maler und/oder Writer) und kein Lehrer. Ich versuche auch bei den Workshops zu erklären, was in mir vorgeht und was ich daraus mache, aber es gelingt mir nicht immer. Meine Ideen kommen aus dem Alltag. Ich lese einen Artikel in der Zeitung, bekomme etwas über Facebook oder das Internet zugesendet, oder sehe eine Abbildung. Die Eindrücke sind mannigfaltig und ich kann keine genauen Quellen angeben, wo die Einflüsse herkommen. Spontane Geistesblitze schreibe ich auf oder zeichne mir eine kurze Notiz. Ob meine Ideen schließlich erfolgreich umgesetzt werden, entscheidet der Moment.

In letzter Zeit passiert es ständig, dass der erste Strich sitzt und ich nicht mehr überarbeiten oder ausbessern muss. Es erhält dann den Stil einer Strichzeichnung und wird als Ergebnis quasi nicht mehr als eine gesprühte Skizze. Diese Herangehensweise finde ich im Wesentlichen auch viel ansprechender als die  perfekte Ausarbeitung. Es behält damit den Eindruck, der momentanen Situation. Das bedeutet nicht, dass die Stilistik, die ich momentan male auch so bleibt. Wenn ich mich nächstes Jahr für etwas völlig anderes begeistere, dann wandelt sich meine Einstellung wieder.

AoA: Gefällt dir für diesen Prozess der Begriff der Improvisation?

Helge Steinmann: Der Begriff der Improvisation trifft es gut. Im Moment mag ich das Grobe und nicht Ausgearbeitete. Das stelle ich mittlerweile der Photoshop-Ästhetik, die nahezu perfekt ist, genau entgegen.

AoA: Wie muss ich mir die Dynamik bei diesem improvisierten Zeichnen vorstellen? Machst du auch Pausen und gehst ein paar Schritte vom Werk weg?

Helge Steinmann: Die paar Schritte zurück gehe ich nur, um zu schauen, ob die Proportionen und die Farbwahl noch stimmen. Ansonsten arbeite ich einfach durch. Falls mir die Farbkombination oder anderes nicht gefällt, dann lasse ich es dennoch so stehen, weil ich dem Werk nur einen Versuch gebe. Abschließend signiere ich mein Werk kurz und betrachte die Arbeiten der anderen, wenn wir in einer größeren Gruppe sprühen. Es bleibt dann immer eine Momentaufnahme.

Zuletzt versuchte ich in einer Ausstellung in Wiesbaden eine Analogie zur Musik herzustellen. Bei der Musik sieht man das gesamte Opus, also vom Anfang bis zum Ende. Vergleicht man das mit der Malerei, sieht man zum Schluss nur das Endprodukt. Ich wollte über den gesamten Zeitraum der Ausstellung an einem Bild arbeiten, indem ich an bestimmten Teilen etwas hinzu sprühe und an anderen Stellen etwas entferne. Zum Schluss sollte das Bild wieder weg sein. Man hat also einen analogen Ablauf zu einem Musikstück. Es war eine witzige Analogie, die aber kaum jemand verstanden hat. Vielleicht war es zu skurril, weil hinterher kein Ergebnis da stand.

Kein Bild, das ich erschaffe, gleicht der Vorstellung, die ich in meinem Kopf davon gehabt habe. Es ist ein ständiger Versuch dem Ideal im Kopf näher zu kommen. Bei Aufträgen empfindet man es häufiger, dass man dem Ideal nicht nah genug kam. Der Kampf wirkt anstrengend und man empfindet es als Job, weil es den Charakter eines Arbeitsalltages besitzt.

AoA: Wenn du nicht nah genug an das Ideal herankommst, wie gehst du damit um? Wirfst du solche Bilder dann auch weg?

Helge Steinmann: Manche Arbeiten, die hier lagern, finde ich nicht mehr schön. Wenn Leute herein kommen und diese Arbeiten gut finden, dann muss ich mich mit meiner Meinung zurückhalten. Das bleibt natürlich eine Frage des Blickwinkels und des ästhetischen Empfindens. Was mir schließlich gefällt, muss anderen nicht gefallen und umgekehrt.

Das eine oder andere Bild habe ich auch schon übermalt und hinten stehen ein paar Werke, die ich durchweg alle ändern könnte. Diese Werke haben zum Teil schon so viele Jahre unverändert überlebt, dass ich mir denke sie nicht zu ändern. Bei mir ändert sich die Ästhetik und es bleibt nie die gleiche Stilistik. Ich kann anhand der Stilistik der Bilder genau sagen, wann ich dieses Bild gemalt habe. An der Handschrift kann man auch bei anderen Sprühern sehen, ob dieser trainiert ist. Graffiti hat seine Moden und die sind über die Jahre sichtbar. Wenn Graffitis in Filmen auftauchen, kann man erkennen in welchem Jahrzehnt der Film gedreht wurde.

AoA: Wenn ich mir vorstelle an der Brücke zu stehen, mit der Spraydose in der Hand – dann denke ich an die Angst ständig erwischt zu werden. Geht die Angst weg, oder bleibt sie ständiger Begleiter, die den Prozess befeuert?

Helge Steinmann: Du trainierst das Umschalten zwischen deinem Tunnelblick für das Bild und der Umgebung. Man konzentriert sich zum einen auf seine Arbeit und zum anderen auf Störgeräusche und Störlichter, immer im Hinterkopf, dass man nur wenig Zeit hat und ständig erwischt werden kann. Schließlich musst du für dein Artwork bezahlen, wenn du erwischt wirst. Ich wurde auch schon erwischt und kenne keinen, der nicht auch schon mindestens einmal erwischt wurde. Von Rechtswegen haben wir eine extreme Verfolgung von Sprayern, weil wir in Deutschland und Europa dem Eigentum und Besitz einen hohen Stellenwert zuschreiben.

Und Angst verleiht tatsächlich Flügel. Man wird immer schneller.

AoA: Du sprachst von deinen Coachs in München. Wie kommt es zu einer Kollaboration zwischen Sprühern?

Helge Steinmann: Wenn ein altes Gebäude abgerissen wird und im Idealfall für Sprüher freigegeben wird, dann laden oftmals altgediente Sprüher, teilweise auch so genannte Bomber ein. Mit Bombing meint man die harten, schnellen großen, teilweise bunten und teilweise silberschwarzen Buchstaben, die sehr großformatig aufgebracht werden. Ich stehe nicht zum Bombing und wählte den Namen damals aus Unwissenheit. Ich wusste damals nicht, dass es eine sprühinterne Richtung ist. Mittlerweile kann man das Sprühen weltweit in unzählige Richtungen einteilen. In Südamerika fließt beispielsweiße die Murales sehr stark in die Werke ein. Fast jedes Land setzt Nuancen in die Sprühkultur und so erkennt man auch die Herkunft der Sprüher.

AoA: Wie laufen die Kollaborationen ab?

Helge Steinmann: Solche Treffen sind eher situativ. Die Leute werden eingeladen, kommen und gehen wann sie wollen. Man spricht sich vor Ort ab, welche Flächen noch frei sind. Nach dem Prinzip: Wer zuerst kommt, ma(h)lt zuerst.

Ansonsten entwickeln sich Kooperationen und Kollaborationen vor Ort wie in anderen Lebensbereichen auch. Es bleibt eine Frage der Sympathie. Nicht jeder versteht sich gut mit den anderen und es gibt Differenzen untereinander. Im Großen und Ganzen ist das verbindende Element die Qualität. Meine Arbeit muss meinen Ansprüchen gerecht werden und man sollte seine eigene Stilistik verfolgen.

AoA: Man kann Werke Epochen, Geografie und sogar Persönlichkeiten zuordnen. Besonders wenn man in Gruppen arbeitet und man die Werke der anderen begutachtet, herrscht doch eine starke Beeinflussung untereinander?

Helge Steinmann: Es unterscheidet sich nicht von anderen Bereichen, die sich über Technik und Produkte unterhalten. Auf sogenannten Jams findet ein Austausch statt. Ich bin einer der wenigen, die von dem Thema leben können. Das unterscheidet mich massiv vom Standard und als Konsequenz agiere ich nur mit Leuten, die einen ähnlichen Weg eingeschlagen haben. Die meisten praktizieren das als Hobby und agieren ansonsten in einem klassischen Beruf, was meiner Meinung nach absolut in Ordnung ist und das Wilde am Leben erhält.

AoA: Stört dich der Begriff der Schönheit?

Helge Steinmann: Es gibt Professuren für Ästhetik und da frage ich mich schon, wie man das bewerten will. Selbstverständlich gibt es Wissen und Berechnungen z.B. zum goldenen Schnitt, aber das so genannte Wissen ist massenmedial verbreitet und gibt uns vor, was wir als schön empfinden sollen. Das kann sich aber auch ändern und ändert sich ständig-nennt sich Mode.  Meiner Meinung nach gibt es viele Graffitis, die wunderschön sind, die andere Leute furchtbar hässlich finden. Die Werke habe eine ganz eigene Ästhetik. Man gelangt in so tiefe Bereiche, wenn man sich damit beschäftigt. Das ist dann der pure Style, wie wir dazu sagen.

AoA: In jeder Kunstform beschäftigt man sich mit dem Publikum. Du stehst nicht auf der Bühne und am Ende klatschen die Leute. Das Publikum ist sehr gespalten, alleine wegen der gesellschaftlichen Vorbehalte. Wie wichtig ist dir der Zuspruch des Publikums?

Helge Steinmann: Ich freue mich natürlich, wenn andere Leute meine Arbeiten schön finden. Meine Wertung ist aber vorrangig. Ich selbst bin erster Linie das Zielpublikum und wenn es mir gefällt, dann bin ich zufrieden. Gefällt es anderen, dann ist das umso schöner, aber nicht notwendig. Ich muss hinter dem Werk stehen können. Für Alltagsbürger ist die Bewertung eine schwierige Entscheidung, weil sie im schlechtesten Fall nur ein buntes Wirrwarr sehen.

Momentan arbeite ich an vielen monochromen Werken, zum Teil auch nur skizzenhaft. Diese Werke kommen erstaunlich gut an. In einem Hotel in Wetzlar skizziere ich gerade nur Bilder mit der Dose in die Räume hinein. Es ist vielen Menschen wichtig, dass man das Bild sofort erkennen kann. Man sieht nur was man kennt ;-).

AoA: Wie gehst du mit der Vergänglichkeit deiner Kunstwerke um?

Helge Steinmann: Für mich gab es ein Schlüssel-Erlebnis, weil ich ursprünglich Archäologie studieren wollte. In Hofheim fand ich auf einem antiken römischen Kastell eine Scherbe Terra Sigilata. Auf dieser Scherbe war ein Fingerabdruck. Dieser Mensch war mit Sicherheit schon gute 2000 Jahre tot. Dieser Fund erstaunte mich und ich begann über mich und meine Hinterlassenschaften nachzudenken. Daraufhin habe ich dann angefangen Bookmarks in der Öffentlichkeit zu setzen. Ich bin mir auch bewusst, dass weder Brückenteile noch andere vermeintlich langlebige Werke überleben. Wir können den zeitlichen Kontext nicht begreifen, da er viel zu groß ist.

AoA: Skizzen und Konzepte sind der Spontanität gewichen. Dein Empfinden von Ästhetik entwickelt sich ständig. Fallen dir noch mehr Aspekte zum Thema Zeit ein?

Helge Steinmann: Mir ist aufgefallen, wie schnell ich in letzter Zeit arbeiten kann. Mein Azubi stand dabei und ich habe innerhalb von 20 Minuten auf Basis einer Zeichnung ein komplettes Zimmer ausgemalt. Unbewusst habe ich das Bild auf die wesentlichen Merkmale reduziert. Ich war davon erschrocken, dass ich auf einem hohen Niveau so schnell performen kann. Ich denke Sportler kennen ein ähnliches Gefühl, wenn sie an einem Höhepunkt angekommen sind.

AoA: Könnte man behaupten, dass du in diesen 20 Minuten in einem Flow warst?

Helge Steinmann: Der Begriff des Flusses beschreibt es tatsächlich treffend. Für gewöhnlich ist es ein Vorgang, der von im Kopf beginnt und über den Arm zur Hand gelangt. Zuletzt musste ich nicht mehr groß nachdenken, wie ich weiter vorgehe. Das was ich sehe, ist das, was ich mache. Ich nenne es auch gerne Sprühsport. Du bewegst und agierst mit deinem ganzen Körper, wenn du auch nur eine gerade Linie ziehst. Die Linie kann dann auch gerne zwei Meter lang werden.

AoA: Findest du dich auch in asiatischen Bildzeichen wieder, die mit Tusche geschrieben werden? Enthalten deine Werke auch einen meditativen Aspekt?

Helge Steinmann: Vor ein paar Jahren habe ich mit einem chinesischen Meister zusammen gemalt. Wir haben uns angenähert, indem ich gesprüht habe und er chinesische Kaligraphie mit Pinseln zeichnete. Es ist hochinteressant, dass hinter jedem Buchstaben ein Bild steckt. Unsere Buchstaben waren auch einst Bilder, die wir aber inzwischen soweit abstrahiert haben, dass wir den Kern verloren haben. In der chinesischen Kalligraphie ist der Kern noch erhalten und erkennbar geblieben. Wenn man die Zusammenhänge und die Geschichten zu den Schriftzeichen erklärt bekommt, dann erkennt man auch die Bilder, die dahinter versteckt sind. Der meditative Aspekt besteht darin, dass man mit seinem Tunnelblick förmlich im Bild steckt. Man muss zwischen Umgebung und Bild umschalten können.

AoA: Jeder kennt es, dass man lange Zeit braucht, um das gleiche Niveau zu erreichen, wenn man aus seiner Konzentration geworfen wird. Für gewöhnlich haben Sprayer keine 20 Minuten, um wieder in den Flow zu kommen. Ist es bei euch etwas anderes?

Helge Steinmann: In dem Moment denkst du nicht darüber nach. Man hat keine Ruhepause und möchte schnellstmöglich wieder weg sein. Selbst nach kurzen Störungen konzentrierst du dich schnell wieder ausschließlich auf dein Werk. Aber auch mich hindern immense Störungen daran weiter arbeiten zu können. Das ist nun mal die kreative Einschränkung beim Graffiti Sprühen. Es hat Auswirkungen auf die Kunstform als solche, dass man enorm unter Zeitdruck steht. Die Werkdauer liegt schließlich bei 20 Minuten und keinen 5 Stunden. Vielleicht geht es nicht so sehr um die Freiheit, sondern um die richtigen Einschränkungen, um neue Lösungen zu finden. Graffiti sprühen ist eine Peak- Performance ähnlich wie bei Pecha Kucha, wo man nur 20 Sekunden für jedes Bild hat.

AoA: Du sagtest du musst abstrahieren, um schnell zu arbeiten. Hast du das Abstrahieren einfach gelernt, oder gab es da eine besondere Übung?

Helge Steinmann: Ich konzentriere mich auf Bildpunkte, die prägnant sind und das Bild vereinfachen. So kann ich das Bild sicher anfertigen ohne eine Skizze zu bemühen. Die Punkte sehe ich sofort und muss sie nicht heraussuchen. Man könnte meinen, dass ich das Bild zuerst reduziere, um es hinterher zu malen. In dem gleichen Muster gehe ich auch bei Portraitzeichnungen vor, indem ich bei einem bestimmten Punkt beginne und mich weiter vorarbeite. Die Fähigkeit zu abstrahieren kam über die Übung und Wiederholung.

Graffiti bietet auch eine Orientierungshilfe. Viele Sprüher haben durch Graffiti einen doppelten Input an Informationen. Ganz allgemein haben wir Menschen einen antrainierten Lesezwang, wenn wir beispielsweise an einer Werbetafel vorbeilaufen. Ein Sprayer erfährt die doppelte Menge an Informationen. In jedem Bild nimmt er zusätzlich noch Tags, Kürzel und das Stylewriting wahr.

AoA: Was wäre deine Position oder Haltung zu deiner Kunst?

Helge Steinmann: Es ist mir wichtig damit weiterhin erfolgreich zu sein, aber nicht auf das Materielle bezogen. Wenn ich als Vorbildfunktion für andere gesehen werde, obwohl ich einen umständlichen und ungeraden Weg gegangen bin, dann macht mich das glücklich. Ich tue etwas, das mir Spaß macht. Man kann auch mit Graffiti Erfolg haben, das vorerst ein dreckiges schmutziges Entlein war.  

Graffiti ist eine große Bewegung und ein großes Medium, dass auch Kinder beeinflusst. Auf der Straße oder auf der Autofahrt sehen Kinder Graffiti und sind soweit interessiert, dass sie es lernen wollen. An den Schulen spielt Graffiti keine wichtige Rolle und ihnen wird keine Möglichkeit gegeben es zu lernen, obwohl inzwischen mehr Lehrer dafür offen sind und die Sprühdose als Werkzeug in die Palette der Malerei aufgenommen wird.

AoA: Besteht der Erfolg darin diese Kunst aus dem Schmuddeligen herauszuholen und weiterzuentwickeln?

Helge Steinmann: Graffiti zu etwas Anerkanntem oder einem Gestaltungsbereich zu heben, der wirklich einen Mehrwert generiert, setzt nicht nur einen Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse, respektive der Pädagogik voraus. Leider sind wir dann wieder bei dem Wert und stellen uns die Frage, was dieser ist. Wir drehen uns im Kreis. Man will Wertigkeit erreichen, läuft aber wieder Gefahr vom Marketing vereinnahmt zu werden.

AoA: Wie stehst du zu dem Trend, dass jeder kreativ sein will, oder sogar kreativ sein muss und ein Instrument nur dafür lernt, um damit Geld oder mindestens Applaus zu erhalten?

Helge Steinmann: Ich bin kein Freund von Zwängen. Wenn Menschen sich für eine oder mehrere Richtungen freiwillig, also intrinsich entscheiden, finde ich das gut und förderungswürdig.

Durch diesen Battle- oder Erfolgsgedanken baut sich ein Konkurrenzdruck auf, der uns als globale Wirtschaft verkauft wird. Malerei und Kunst aber im Allgemeinen sollte vielleicht ursprünglich helfen sich von dem ständigen Wettbewerb zu befreien. Im Stylewriting und im klassischen Graffiti habe ich so etwas gefunden, weil es außerhalb eines klassischen Wettbewerbs stattfindet. Es herrscht schon ein Wettbewerb. Dieser wird aber nicht monetär oder durch externen Druck ausgeübt. Man steuert selbst den Druck und bildet seine eigene Ästhetik heraus. Das ist bis heute noch das Ziel vieler Sprayer, mit seiner eigenen Ästhetik aus dem Segment herauszustechen.

Schlußendlich hätten wir ansonsten tatsächlich die vielzitierte Ökonomisierung von allem.

AoA: Das findet sich in allen Kunstformen als künstlerische Position wieder. Die Technik ist das Handwerk. Es gibt viele gute Geiger, aber wenn sich die eigene Position über das Instrument erhebt, dann sticht man heraus.

Helge Steinmann: Später hört man heraus, dass es nur dieser eine Geiger sein kann, weil nur er die Melodie mit so einem Anschlag oder Effet spielt. Genau das versuchen viele Sprayer im Stylewriting herauszuarbeiten, seinen eigenen Stil. Das ist mittlerweile ein wenig verwässert, weil wir zum Beispiel auch Streetart haben. Streetart sind bunte Figuren, die allgemein putzig und anerkannt sind, weil sie leicht zu verstehen sind. Die Figuren lassen sich leicht in Werbung und die Alltagswelt einbauen, während das klassische Stylewriting codiert ist und deshalb nicht sofort konsumierbar. Man muss sich damit schon intensiver beschäftigen.

AoA: Was kann die Wirtschaft von Künstlern lernen, oder speziell auch von dir und Graffitikünstlern?

Helge Steinmann: Ich denke Unternehmertum steht nie für sich alleine. Wenn jemand von der Malerei leben will, dann muss er unternehmerisch handeln. Es klingt zwar banal, aber auch er muss zu möglichst niedrigen Kosten einkaufen, um Gewinn zu erwirtschaften. Er muß sich selbst disziplinieren und gewisse Strukturen haben.

In einem Workshop für Topmanagement ist mir aufgefallen, dass das klassische Delegieren von oben nach unten auch immer ein Problem in sich birgt. Neue Vorgaben, die umgesetzt werden, müssen erneut kontrolliert werden.  Die langen Wege durch die Hierarchien erzeugen Probleme. Ich könnte mir vorstellen, dass es besser funktioniert, wenn mehr Leuten Verantwortung anvertraut wird.

Man zieht die pyramidenartige Struktur nicht bis ganz nach unten, sondern nur bis ins mittlere oder untere Management. Dazu muss man sensibler bei dem Einstellen von Menschen umgehen. Ich hatte selbst auch mal eine Firma und da stellte ich fest, dass man an andere Informationen in der Firma kommt, wenn ich mich nicht weit über die Angestellten positioniere. Es besteht die Gefahr, dass man als Vorgesetzter nicht mehr ernst genommen wird, aber man erhält einen anderen Einblick dahingehend, wie die Firma funktioniert und welche Strukturen herrschen. Das fachspezifische Wissen ist unerlässlich, aber ich mag es genauso gerne, wenn Mitarbeiter ein hohes Maß an Sozialkompetenz aufweisen.

Ich befürchte, dass viele Menschen ihr wahres Talent noch nicht gefunden haben. Dies zu vollziehen und individuell zu fördern ist meiner Meinung nach die tatsächliche Aufgabe von Schulen. Nicht dieses tote Wissen, gelähmte Lehrpläne durchzudeklinieren.

Viele von uns sind im daily huzzle des Überlebens und wir haben im Grunde materiell alles, sind aber konditioniert über die Medien und werden dazu konditioniert immer neue Produkte zu erwerben, um andere menschliche Wesen in unserer näheren und weiteren Umgebung zu beeindrucken. Das ist ein zweischneidiges Schwert. Ich denke es braucht weniger, um wirklich glücklich zu sein. Ich möchte selbst gar nicht viel besitzen und habe festgestellt, dass meine Eigentümer nur temporär in meinem Besitz sind. Nur unsere Lebenszeit besitzen wir tatsächlich. Alles andere steht in unserer Lebenszeit nur unter unserer Verwaltungshoheit. Abschließend geben wir es wieder ab und es ist in naher Zukunft wieder bei jemand anderem oder inzwischen klein gemahlen in Atome. Wir besitzen nichts. Das ist eine Illusion.

AoA: Wie funktioniert so ein Workshop mit Managern zum Beispiel?  

Helge Steinmann: Ein Workshop mit Managern unterscheidet sich kaum zu einem Workshop mit Kindern und Jugendlichen. Ich starte mit einem historischen Abriss über die Herkunft des Graffitis und lasse sie dann in einer Konzeptionsphase Skizzen anfertigen. Der nächste Schritt ist der schwierigste und überfordert für gewöhnlich schon alle. Die Skizze auf dem Papier muss jetzt nämlich skaliert auf eine vorher definierte Fläche gesprüht werden. Die Resultate sind immer katastrophal, aber es stellt ein Erlebnis dar, nicht nur weil die Farbsprühdose ein massenmedial verfemtes Werkzeug ist, sondern weil man nicht oft die Gelegenheit hat mit einer Spraydose irgendwo zu arbeiten und das macht es zu etwas Besonderem.

AoA: Was sind die gängigen Gruppengrößen?

Helge Steinmann: Das spielt keine Rolle. Wir hatten einmal für die Renault-Nissan AG einen Kurs aus 380 Händlern mit 18 Leuten gesteuert. In Falkenstein haben wir zwei Gruppen mit jeweils 20 Leuten zu zweit betreut. Unsere Preise staffeln wir nach Stundensatz und Material.

AoA: Was war das Ziel und der Impuls für die Renault-Nissan Angestellten den Workshop zu besuchen?

Helge Steinmann: Die Mitarbeiter feierten die Einführung des Nissan Qashqai und zugleich ihre Weihnachtsfeier. Das Graffiti-Sprühen war für sie einfach nur Unterhaltungsprogramm. Rückblickend finde ich es schade, dass sie sich nicht getraut haben ein Auto zu besprühen. Wir haben riesige Leinwände als einzelne Elemente aufgebaut und etwas vorskizziert. Ganz nach dem Prinzip: Malen nach Zahlen. Sie durften diese Skizzen ausfüllen, haben sich aber nicht nur daran gehalten, sondern auch eigene Entwürfe verbaut und über die Outlines gesprüht. Später haben sie die Leinwände zur Premiere transportiert und ihre Weihnachtsfeier abgehalten.

Vor kurzem habe ich auch einen Workshop mit Roche in Basel abgehalten. Wir haben riesige Buchstaben aus Holz gebaut bekommen und diese besprüht. Obwohl sie zu Anfang bedenken hatten, fanden sie sie das Ergebnis klasse.

AoA: Vielen Dank für deine Zeit und das tolle Interview.